» Es gibt eben zwei Sorten Ballons – die ›Rauf-Ballons‹ und die ›Runter-Ballons‹ « – Peppa Wutz

Essay von
Jenny Schäfer

Auf seinem Regal stehen die Dinge, mit denen er nicht spielt. Eine Schneekugel, ein selbst gebastelter Krake aus gelber Pappe, ein gold gefärbter Markus-Löwe aus Venedig – aus diesem keramischen Material, aus dem auch viele Kühlschrankmagneten sind –, eine sehr kleine Wackelschildkröte, eine noch kleinere Schildkröte aus diesem Kühlschrankmagnetenmaterial, ein schachtelbarer Pinguin aus Holz, ein schachtelbarer Seehund aus Holz, ein besonders glänzend lackierter Pluto aus hochwertiger Keramik, ein kleines Modell des Checkpoint Charlie aus dem Kühlschrankmagnetenmaterial sowie ein Glücksschwein aus ebendiesem Material. Inzwischen habe ich herausgefunden, woraus diese Objekte sind: Polyresin. Unten auf dem Glücksschwein hat sie notiert: »Ich wünsche euch ein gute Rutsch 2020 und Bleib gesund. L.G. Oma.« Das Schwein ist hellorange lackiert, die Ohren und die Nase sind etwas rosa. Am rechten Ohr wird es von einem kleinen Fliegenpilz dekoriert. Um den Hals trägt es eine rote Fliege mit weißen Punkten. In der linken Vorderpfote trägt es ein goldenes Hufeisen. Mit seinen Hinterbeinen steht es auf einem, im Verhältnis zum Schwein recht großen, grünen Kleeblatt. Zum neuen Jahr habe ich stets ein solches Schwein bekommen. Mal aus Marzipan, mal als Dekofigur mit einem Glückspfennig oder getragen von einem Schornsteinfeger. Aktuell auf eBay zum Sofort-Kaufen für nur 13,90 Euro:

»3 x Glücksschwein mit 1 Pfennig Münze 24 Karat vergoldet / Ideal als schönes Ganzjahres Geschenk / Echte Glücksbringer / Eine exclusive Dekoration für eine festlich gedeckte Tafel und ein begehrtes Sammlerobjekt! / Nicht im Handel erhältlich / Neu ungebraucht, nie benutzt«

Diese Akkumulationen von Glücksbringern haben ihren Ursprung natürlich in irgendwelchen germanischen Sagen. Freyr, der mit seiner Schwester Freyja verheiratet war, hat mal einen goldenen Eber namens Gullinborsti wahlweise Slíðrugtanni (Gullinborsti ist schon niedlicher) geschenkt bekommen. Gullinborsti zieht Freyrs Gefährt durch Luft und über Wasser und – passt auf – beleuchtet mit seinen Borsten die düstere Nacht. Die Leute haben dieses magische Schweinchen darum als Symbol für Wohlstand übernommen.

Auf bildderfrau.de lese ich außerdem, dass die Griechen und Römer nicht hungern mussten, wenn sie ein Schwein besaßen, und: »seit dem 16. Jahrhundert wird das Schwein vermutlich auch in Deutschland als Sparbüchse genutzt, da wurde nämlich das älteste Exemplar gefunden, das sogar noch Münzen in sich trug.«

»Sie träumen von einem süßen Schweinchen als Haustier, um sich den Glücksbringer und dessen Bedeutung nach Hause zu holen? Lesen Sie hier wichtige Infos zur Minischwein-Haltung. Erfahren Sie auch, welche Bedeutung häufige Traumsymbole haben. Noch mehr dazu gibt’s auf unserer Themenseite Sternzeichen. Außerdem: Kennen Sie schon die tiefgehende Bedeutung von weißen Rosen?«

Wir mussten nicht hungern. Stets gab es Wurst. Wurstteller, Wiener Wurst, Wurstsalat, Bärchenwurst, Wurst vom Grill, Wurst von meiner Patentante – die mit der Putenfarm. Ihre Nachbarn hatten eben die Schweinezucht, und darum kam das mit in die Wurstpakete, in Form von Roh-, Brüh- und Kochwurst, Fleischwurst, Jagdwurst, Leberwurst, Mettwurst, Blutwurst, Teewurst, Schinkenwurst, Rohschinken, Kochschinken, Bierschinken, Mortadella, in den Nullerjahren dann italienische Mortadella, Leberkäse, Hack, Weckewerk, Frikadellen, Salami. Samstags ging ich mit meinem Vater einkaufen; nachdem ich ein Überraschungsei oder ein Micky-Maus-Heft beim Supermarkt erbetteln konnte, gingen wir zur Fleischerei Wagner, und ich bekam eine gerollte Scheibe Mortadella. Die regional prominenteste Wurst, Ahle Wurscht, kauften wir aber nur bei Thiele. Zum Abendbrot gab es dann entweder Wurst aus gestapelten Tupperdosen oder vom Aufschnitt-Teller. Bis heute ist so eine Aufschnitt-Platte präsent bei diversen Elternbesuchen. Ich mochte es schon früher nicht, wenn die Leberwurst die Salami ein bisschen berührt hat und Schmierspuren daran waren. Oder noch schlimmer, auf dem Schulbrot: in der Butter Leberwurstreste und darauf dann Salami. Als ich in der Kita gearbeitet habe, gab es mittwochs zum Frühstück Leberwurst, und die Kinder rochen den ganzen Vormittag nach Wurst aus dem Mund. Ich habe schon immer gewusst, dass Tiere für diese Wurst sterben. Irgendwann wusste ich, dass sie schlecht gehalten werden und es Menschen gab, die keine Wurst aßen. Ich war ziemlich überrascht, dass das geht, und dachte: DAS mache ich auch. DAS hat allerdings nicht geklappt, weil sowohl meine Eltern als auch meine Großeltern DAS vollständig ignoriert haben und ich aufgrund anderer Komplikationen kein Durchsetzungsvermögen hatte. Als ich auszog, um meine Ausbildung zu machen, lernte ich Vegetarier:innen und sogar Veganer:innen kennen. Ich aß kaum Fleisch, auch jetzt esse ich selten Fleisch, aber ich bin nicht überzeugend genug, als dass mein Kind von sich aus vegetarisch leben würde. Ich bespreche aber mit ihm, welches Tier da gerade bei Opa auf dem Tisch liegt. In dem Kinderbuch Wo kommt unser Essen her wird der Weg vom Ferkel zur Wurst aufgezeigt, und wir diskutieren, wann ein Tier ein gutes Leben hatte, ob wir das Recht haben, Tiere zu essen, die wir nicht selbst töten oder nicht kennen oder nicht kennen lernen wollen. Irgendwann mal sagte mein Sohn, ob es vielleicht okay wäre, wenn er nur Schwein äße, weil »das seien nicht seine Lieblingstiere«. Gestern sagte er wiederum: »Schweine sind sehr intelligente und sensible Tiere.« Meine kognitive Dissonanz kann ich hier ziemlich gut beobachten: »Ja, aber. Nein, weil. Und außerdem, aber, mmh lecker.« Im Übrigen gab es beim Fleischer monatlich ein Fleischereiheft mit Rezept, Kreuzworträtsel und einer Witzeseite. Die fand ich gut. Außerdem mochte ich das Essen in Assietten, was wir manchmal dort holten und in der Mikrowelle aufwärmten. Assiette ist übrigens ein Wort aus dem Französischen, was nicht nur Teller/flache Schüssel bedeutet, sondern auch von Lage/Gemütszustand kommt. Und das ist doch ein wichtiger Punkt: Dieses Essen von toten Tieren ist ja nicht mehr notwendig. Wir müssen das nicht tun, um zu überleben, aber die Speisen erinnern uns an irgendwas, sie geben uns ein bestimmtes Gefühl. Für Herrn Schulz ist es das Gefühl, es geschafft zu haben. Es ist kein Problem mehr für ihn, mit seinem Leasingwagen zur Fleischtheke zu fahren und viel Fleisch zu kaufen. Er kann sehr viele Steaks grillen, sich jede Bratwurst leisten. Er lebt nicht mehr auf engem Raum mit Toilette auf halber Treppe und unter Beobachtung des Jugendamts. Für Herrn Schneider ist es anders, aber ähnlich. Die Fleischauslage erinnert ihn an seine Kindheit. Es war etwas Besonderes, ein Schwein geschlachtet zu haben. Dann gab es festliche Speisen, sonntags den Braten. Frau Hermelin findet auch, ohne Sonntagsbraten ist es kein richtiger Sonntag, auch wenn sie lange nicht mehr zur Kirche gegangen ist. Die Kirche ist ja auch ein verlogener Verein, nee, da zahlt sie keine Kirchensteuern mehr, und noch mal wegen naja und es schmeckt doch auch nach nichts ohne Fleisch, weder die Bratkartoffeln noch der Eintopf.

Auf der Kirmes, auf Vereinsfeiern, auf dem Gehörlosenfest und auf dem Markt gab es, und ich würde sagen gibt es, Schweinebratwurst mit Senf oder Ketchup. Im besten Falle mit gutem Brötchen, im schlechten Fall mit einer Scheibe Toast aus der Verpackung. Für mich persönlich hat Fleisch essen auch mit Erinnerungen zu tun. Das ist recht fürchterlich und würde mir hier doch zu persönlich werden. Vielleicht so weit: Es hatte viel mit Fürsorge zu tun. Was die eine Person nicht leisten konnte, leistete meine Großmutter doppelt und dreifach, und bei dieser gab es mindestens vier Mal in der Woche diverse Schweinefleischvariationen. Im Kühlschrank lag auf einem kleinen Teller immer ein Stück weißer Speck, überdeckt mit Klarsichtfolie. Nachdem ich meine Großeltern begrüßt hatte, schlenderte ich an den Kühlschrank, schnitt mir ein Stück von der Schwarte ab, rieselte sehr viel Jodsalz darauf und ließ es mir schmecken. Anschließend kam meine Oma in die Küche, lachte oder schimpfte freundlich. Da fällt mir auf, dass es bei meiner anderen Oma fast nie Schweinefleisch gab und auch sonst kein Fleisch, stets Krepli oder Kartoppel-Kleis. Über meiner Fleisch-Oma zogen irgendwann Edina und ihre Eltern ein. Sie haben viel gelacht und aßen kein Schwein. Ich wusste damals gar nicht, dass es das gibt: Leute, die manche Tiere nicht essen, weil es traditionell oder religiös begründet wurde. Staunend machte mein innerer, weißer Baby-Jesus, geprägt durch meine römisch-katholische Großmutter, Platz für neue Eindrücke. Es roch nun nach anderem Fleisch. Es war verdammt lecker, und ich aß glücklich bei Edina mit. Gemeinsam malten wir Diddl-Mäuse und Nici-Enten. Es war auch die Zeit von Uli Steins Mäuse- und Schweinecomics. Ich kann mich gut an diese Zeichnungen erinnern, man schlenderte durch Nanu-Nana und fand Karten, Tassen oder Schlüsselanhänger mit aufgedruckten Situationen wie: Ein Mops und ein Schwein schauen auf einen Computerbildschirm. Der Mops beschwert sich: »Wenn ich ›Möpse‹ eingebe, bekomme ich nur sowas angezeigt …« Das Schwein antwortet: »Na, da solltest du mal sehen, was ich immer kriege, wenn ich nach ›Schweinekram‹ suche!« Diese Art von Humor ist vermutlich nicht zufällig verbunden mit Jahrmarkt, Deutschland, Fußball, Grillmeister und Schützenverein. Ich weiß nicht, was es genau ist, was sich da miteinander verbindet, aber es fällt zusammen mit dem es geschafft haben, sich seinen Humor nicht nehmen lassen, mit toxischer Männlichkeit und Wurstgeschenken. Auf amazon.de finde ich viele phallische Variationen dieser Phänomene. Herz & Heim verkauft:

» Geschenk für den Mann 
Salami-Kabeltrommel — längste Männerpraline der Welt — personalisiert.

Salamiherzen — Männerpralinen — mit Namensaufdruck für Vatertag.«

Wurstbaron verkauft:

» Salami Kackhaufen, leckere Salami im witzigen Design, hochwertige Qualität 
und rauchiges Aroma, lustiges Geschenk, 240 g

Ostersalami Maulwurf, Zoo Kuh oder Glücksschweinchen sowie für den Grill

Wurstbarons Moped 
verschiedene marinierte Grillfleisch Sorten und Bratwürste

Salami Sektflasche Champagner und Spazierstock Männertag «

Und mein Favorit und Namensgeber einer Internetseite ist der Wurststrauß:

» … passt zu jeder Gelegenheit. 
Der große Wurststrauß ist eine Komposition von 3 Rosen, 
bestehend aus hausgemachter Salami & Lachsschinken, 
sowie feinstem Rauchkäse. 
Alles separat vakuumverpackt.«

Es gibt einiges von »Wurststrauß Groß – Rot« über »Wurststrauß Groß – INDIVIDUAL« bis hin zu »Wurststrauß Klein – Goldene Hochzeit«. Diese Verformungen von zerkleinertem Fleisch in florale Arrangements oder niedliche Tiere erinnern mich an das im Fleischereikontext wiederkehrende Motiv des Schweins als Maskottchen, verkleidet als Koch oder Grillmeister. Eine Motivtafel mit dem Angebot des Tages gehalten von einem lachenden Schwein im Comicstil, es trägt eine weiße Kochmütze, einen weißen Kittel und in der linken Hand ein Beil. Ein gezeichnetes Schwein, lachend, mit weißer Kochschürze, in der rechten Hand einen Grillspieß mit einer gerösteten Bratwurst. Denkt man diese Formationen zu Ende, bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Dass es schwer miteinander zu vereinbaren ist, Fleisch essen zu wollen und um die grausamen Umstände der industrialisierten Schweinehaltung Bescheid zu wissen, dass sich hier moralische und ökologische Debatten und Entscheidungen sowohl von der Politik als auch vom Individuum entspinnen müssen, ist unbestreitbar, aber der Drang, das Schwein als glücklichen Spender der eigenen Rippen darstellen zu wollen, ist zutiefst, wie Donna Haraway vielleicht sagen würde, untentakulär, menschlich und egoistisch. »Every new discovery is just a reminder«, philosophiert Jobu im Stein-Dialog aus dem grandiosen Film Everything Everywhere All At Once (2022) zu Evelyn, die darauf antwortet: »We’re all small and stupid.«

Heute erzählte ich meinem Vater im Café von dieser Denkansammlung über das Schwein, und er ist kurz nachdenklich, rückt ab in die Vergangenheit und erzählt mir, was ich noch nicht wusste. Er war häufig bei seinen Großeltern in Harlingerode zu Besuch, den Eltern seiner Mutter. Jedes Jahr, wenn der Winter kam, im Oktober oder November, wenn es nebelig und dunkel wurde, wurde ein Schwein geschlachtet. Sie hatten immer zwei Schweine. Der Schlachter kam zum Helfen, und neugierig stand mein Vater dabei, wenn das Schwein zerlegt und verarbeitet wurde. Mit Ekel und Staunen sah er große Töpfe, in denen große Teile gekocht wurden. Es dampfte und roch unangenehm, fand er. Die Wurstwaren und Fleischteile wurden dann in diesen kühlen Erdraum gebracht, wo alles gelagert wurde. Er kommt wieder zurück aus der Vergangenheit und lacht. Das Fleisch habe ihm nie so gut geschmeckt wie das gekaufte. Die hausgemachte Wurst war ihm suspekt, und er aß lieber das anonyme, gekaufte Fleisch. Es sei ohnehin besser gewürzt. Das kann natürlich sein. Aber ich denke auch, dass die Entfremdung vom Tier – durch den kapitalistischen und konsumorientierten, den hygienischen und abstrahierenden Schritt, den Akt des Schlachtens durch den Akt des Kaufens zu ersetzen – vieles leichter macht.

Abschließend möchte ich aus dem utopischen Lied von Homer Simpson über sein Hausschwein Plopper zitieren. Er hat das Schwein bei sich aufgenommen, weil er glaubt, dass Tiere, die Menschenkleidung tragen, nicht getötet werden sollten. Er schreibt Plopper ein Lied:

Spider-Pig, 
Spider-Pig,
 Does whatever a Spider-Pig does.

Biografie

*1985, Kassel; lebt in Hamburg

• 2008–2012 Studium der Kunst auf Lehramt an Sonderschulen • 2012–2015 Studium der Bildenden Kunst und Fotografie an der Hochschule für bildende Künste, Hamburg

A 2023 Spannkraft und Elastizität, Galerie HINTEN, Chemnitz (mit HazMatLab) • 2021 limited edition, Künstlerhaus FRISE, Hamburg (mit Carsten Benger) • 2020 Easy, MOM art space, Hamburg (mit Franziska Opel) • 2019 World can only be saved by horses, nygIwest, Leipzig • 2018 I Am A Future Animal, Studio 45, Künstlerhaus Wendenstraße, Hamburg • 2017 Forum 044: Liste: Neues Wasser, Münchner Stadtmuseum, München; This is No Science Fiction, Institut für moderne Kunst, Nürnberg • 2014 Aggregat (Gestein), Galerie HINTEN, Chemnitz

P Arbeitstage, Hamburg 2023 • Atlas, Vergleichende Steinsammlung, Hamburg 2022 • again between. Ein Heft, zwölf Fotografien, ein Gedicht, Leipzig 2022 • String Figures, Hamburg 2022