Schwein haben — Schwein sein?

Essay von
Inka Schube

»Schwein« ist ein seltsames Wort. Halbwegs nüchterne, friedvolle Menschen nehmen es, so sie nicht auf einem Bauernhof oder in der Fleischindustrie arbeiten, eher selten in den Mund. Eine Kunstausstellung nach diesem Tier zu benennen ist zumindest ungewöhnlich.

Dabei sind Tiere in der Kunst ein populäres Thema. nützlich – süß – museal. Das fotografierte Tier hieß 2005 eine Ausstellung im Museum Folkwang, Essen, Tiere. Respekt – Harmonie – Unterwerfung 2017 eine Ausstellung im Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg. Die begleitenden Publikationen, Überblickswerke mit je mehreren hundert Seiten, weisen jeweils genau drei Abbildungen von Schweinen auf – Spielzeug und tote, ausgeweidete Tierleiber mitgezählt. Es ließen sich unzählige weitere Belege ihrer Abwesenheit finden. Eine der seltenen, zudem prominenten Ausnahmen ist das für die documenta X von Rosemarie Trockel und Carsten Höller 1997 eingerichtete Haus für Schweine und Menschen. Insgesamt scheint das Verhältnis zwischen Kunst und Schwein eher kompliziert zu sein. Schweine symbolisieren häufig das moralisch Verworfene, Böse, dienen als Karikatur von gierigen, maßlosen Feinden. Ausführlich war das 2022 auf der documenta fifteen zu besichtigen.¹ Doch auch dort, wo die Religion den Verzehr von Schweinefleisch und den Gebrauch der nahezu 200 »schweinischen« Produkte – von Apfelsaft über Lippenstift bis Blutverdünner² – nicht untersagt, ist schon das Wort offenbar schambesetzt.

»Schwein« sagen wir zu einem Menschen, wenn unsere Schamgrenzen verschoben oder aufgebrochen sind, Emotionen mit uns »durchgehen«. Auch dann zeigt sich, dass dieses Tier, seit 150 Jahren mehr und mehr aus unserem Alltag verdrängt, unter einer dünnen Schicht zivilisatorischer Selbstkontrolle ein Eigenleben führt. Es wartet offenbar nur darauf, ans Tageslicht zu dürfen. So ziemlich jedem und jeder fällt, ist dieses Wort erst einmal »raus«, ausgesprochen, etwas »Schweinisches« ein: ein Kindheitserlebnis, etwas Gesehenes, Gelesenes oder Gehörtes, eine Redewendung.

Das Schwein existiert in Romanen, Erzählungen, Märchen, in Träumen, Kinderbüchern und Kindheitserinnerungen und nicht zuletzt als adrettes Bildchen, auf denen es dafür wirbt, verspeist zu werden. Oder aber wir begegnen ihm auf Aufnahmen skandalöser Stallanlagen, heimlich dokumentiert von Tierschutzaktivist:innen – Bilder, von denen wir den Blick möglichst schnell wieder abwenden: Umstände wie im ärgsten Grimm’schen Horror. Dabei bedeutet »Schwein haben« eben auch Glück haben. Sich ein Schwein zu halten war, und ist mitunter noch immer, auch unter schwierigen Umständen möglich. Geräuchertes und Gepökeltes half und hilft in kargen Zeiten. Schweineschmalz galt als heilende Einreibung, und eine fette Schwarte tut dem Leder, das über Generationen halten soll, nach wie vor gut.

Und je tiefer ich in dieses Thema eintauche, umso allgegenwärtiger werden die »unsichtbaren« Schweine, umso weniger verstehe ich ihre geringe alltägliche Sichtbarkeit: Als gäbe es zwei Parallelwelten, die lediglich über »Portionen«, Scheiben, Stücke und Häppchen miteinander verbunden sind. Wo also sind sie hin, diese »ganzen« Schweine, als Lebewesen, denen wir mit angemessener Achtung begegnen? Warum löst es Ungläubigkeit und Gelächter aus, wenn ich im Vorfeld dieses Projektes davon berichte?

Schweinebewusstsein

Im März 2020, der erste Lockdown trat gerade in Kraft, berichtete die Presse, dass die LFD-Holding, deutscher Marktführer im Bereich Ferkelproduktion und Schweinemast,³ an die wenige Monate zuvor gegründete Aktiengesellschaft Terra Grundwerte AG mit Sitz in der Schweiz verkauft worden sei.⁴ Einer der ältesten Betriebe des weit verzweigen Firmenkomplexes steht am Rande meines Heimatdorfes Gladau in Sachsen-Anhalt. 1971/72 war dort die »DDR-weit erste Anlage zur industriellen Produktion von Schweinefleisch« für anfangs 12.500 Tiere errichtet worden, die schon nach fünf Jahren aufs Doppelte erweitert wurde. Während die ZBE Mast Gladau, so der offizielle Name, zu einem Vorzeigebetrieb erblühte, sahen wir aus nächster Nähe der Vergüllung von Boden und Wasser, der Verödung der umgebenden Landschaft zu. 1987, als in unserem Haushalt ein Kind geboren wurde, teilte ein amtliches Schreiben mit, das Brunnenwasser sei aufgrund der hohen Nitratbelastung nicht mehr für die Ernährung von Neugeborenen und Kleinkindern geeignet.

Über die Jahrzehnte war der Betrieb, der zwischenzeitlich das Siebenfache des ursprünglich vorgesehenen Tierbestandes umfasste, in ebenjener LFD-Holding aufgegangen. Deren Bilanz wies kurz vor dem Verkauf an die Schweizer Aktiengesellschaft einen Wert von knapp 24,5 Millionen Euro allein an »Tiervermögen« auf, Sachwerte wie etwa Boden nicht einberechnet.⁵ Nun gehört also auch »die Mast«, in der schon seit Langem kaum noch Gladauer:innen arbeiten, einem Schweizer Investor.

Wie gesagt, es war Lockdown. Außerhalb der Krankenhäuser schien die Welt stillzustehen. Unerwarteten Nachrichtenwert bekamen die brutalen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Standen sie nicht mit besagter Zeitungsmeldung über den Verkauf eines deutschen Marktführers an ein eben gegründetes Schweizer Unternehmen in Verbindung? Gedanklich führt der Weg von der Abwanderung eines Firmensitzes ins Ausland direkt zu arbeitsrechtlichen Fragen: Von einer Auslandsholding fordert der hiesige Gesetzgeber nicht zwingend einen Betriebsrat.⁶ Und sind geminderte Steuereinnahmen, klamme öffentliche Kassen, das unterfinanzierte Gesundheitssystem etc. nicht auch Folgen derartiger Geschäfte? Verteilungsungerechtigkeit korrespondiert mit Konzentrationsprozessen in der Agrarindustrie, mit der Abhängigkeit der bäuerlichen Landwirtschaft von Finanz-, Nahrungsmittel- und Energiewirtschaft und deren Verschränkungen. Fragen von Tierethik und Nachhaltigkeit grundieren dies alles.

Brot und Fleisch, Nahrungsmittelindustrie und Energiewirtschaft, Urbanisierung und ähnliche Flächenversiegelungen konkurrieren um dieselbe Ressource: den Boden – ein Ökosystem, Lebensraum, Speicherreservoir, dessen Gesundheit für unser aller Zukunft unerlässlich ist.⁷ Wem trauen wir zu, ihn mit dem nötigen Respekt zu bewirtschaften?

Ein Projekt, das von einer solchen Zeitungsmeldung inspiriert ist, könnte also ebenso gut Bodenbewusstsein heißen. Doch liegt das Thema »Schwein« geradezu vor der Türschwelle, im Einkaufskorb, in der Luft. 2022 wurden in Niedersachsen mehr als sieben Millionen Schweine, Sauen und Ferkel gezählt. Das Bundesland ist, gefolgt vom benachbarten Nordrhein-Westfalen, mit Blick auf die Produktion von Schweinefleisch deutschlandweit Spitzenreiter.⁸ Die Diskussionen um Transformationsprozesse in der Landwirtschaft und die Suche nach neuen Perspektiven betreffen die Nachbarschaft des Sprengel Museum Hannover in besonderer Weise.

Ist es möglich, mit den Mitteln der Kunst den zwischen Stall und Gesellschaft nötigen Gesprächen Impulse zu geben?

Ist es möglich, einen Begriff wie »Schweinebewusstsein« positiv zu besetzen, ihn einzuführen als Synonym für Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenüber jenen komplexen ethischen, ökologischen und ökonomischen, gesellschaftlichen Zusammenhängen, die dieses Tier zu symbolisieren vermag?

Ocular Witness

Jean-François Chevrier schrieb 2020 im Nachdenken über Gegenwart und Zukunft der künstlerischen Fotografie: »Der einzige Ausweg [aus der Gefahr, zum Kitsch zu verkommen] ist die Erhaltung eines Realismusanspruchs, der über die Beobachtung, die Beschreibung, die Reportage verläuft […] wenn man eine Intention wahrnimmt, eine Haltung, ein Projekt.«⁹ angesichts der Ermüdung, die die im Sekundentakt um unsere Aufmerksamkeit buhlenden Ströme »hübscher« und »hübschester« Bilddaten auslösen, gilt es Chevriers Forderung nach einem Realismusanspruch anzunehmen. Doch allein von der Reportage bzw. der dokumentarischen Fotografie ist das nicht zu leisten. Bertolt Brecht schrieb 1930: »Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität aussagt. […] Es ist also tatsächlich ›etwas aufzubauen‹, etwas ›Künstliches‹, etwas ›Gestelltes‹. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig.«¹⁰

Hier setzt das Projekt SCHWEINEBEWUSSTSEIN an. Es erprobt das Zusammenspiel verschiedener künstlerischer Praxen in gesellschaftsanalytischen Prozessen und Diskussionen.

Es versteht sich von selbst, dass hier zum Einsatz kommende Aufzeichnungs- und Wiedergabesysteme nicht als Erstes für zeitkritische Auseinandersetzungen entwickelt werden. Sie entstehen in Industrien, die sich wie andere auch von Wachstum, globalen Konzentrationsprozessen, Ressourcenverschleiß und Verteilungsungerechtigkeiten nähren. Auch die mit den weltweiten Interessen an Seltenen Erden einhergehenden kriegerischen Auseinandersetzungen sind den digitalen Bildproduktionen und -zirkulationen eingeschrieben. Mit Werkzeugen dieser Art ausgerüstet, ist ein analysierender Blick von außen unmöglich. Die kürzlich in Hamburg und Wien gezeigte Ausstellung Mining Photography: Der ökologische Fußabdruck der Bildproduktion¹¹ hat dies überdeutlich dargelegt. Daher ist der Begriff »ocular witness«, wie der Begriff »Schweinebewusstsein«, eine Neuschöpfung. Er wird hier eingeführt als Bezeichnung einer Zeugenschaft, die die inzwischen archaisch anmutende Idee von Augenzeugenschaft um die Zeugenschaft bildgebender Verfahren erweitert. Ihm ist zudem das Bewusstsein eingeschrieben, dass auch Ausstellungshäuser auf Gelder angewiesen sind, die auf Märkten erwirtschaftet werden, deren ethische Standards selten transparent sind. Es gibt kein »Außen« zu diesem ressourcenverschleißenden Kapitalismus. Auch der Kunstbetrieb kann dies nicht bieten. Bleibt die Frage, was er dennoch leisten kann.

Positionen, Werke, Kontexte

ocular witness: SCHWEINEBEWUSSTSEIN ist ein vielstimmiges, multiperspektivisches, die Mittel der Kunst nutzendes Recherche- und Ausstellungsprojekt. Eingedenk des Risikos, dieses Tier erneut zu benutzen, steht hier das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen anhand seines Verhältnisses zum Schwein zur Diskussion. Da das Vermögen von Kunst darin besteht, in poetischem Eigensinn Fragen zu stellen bzw. selbst diese Frage zu sein, sollten Antworten nicht erwartet werden.

ocular witness: SCHWEINEBEWUSSTSEIN kann den sich hier öffnenden Themenkomplex auch angesichts diverser kultureller Bezugssysteme nicht einmal ansatzweise vollständig aufreißen. So beschränkt sich das Projekt auf einige zentrale Aspekte. Eingeladen wurde mit Blick auf die Einbettung möglicher Themen in bisherige Werkzusammenhänge. Zudem bringen einige der Beteiligten spezifische Vorerfahrungen – als Biologe, Lebensmittel- und Fleischverkäuferin, Soziologin, Koch oder Landschafts- und Bienenpädagoge – ein. Mit Blick auf die Herkunft der Arbeitskräfte in der Fleischindustrie und die wichtigsten Exportländer werden explizit Perspektiven aus Osteuropa und Asien eingebunden. Die Mehrzahl der hier vorgestellten Werke entstand eigens für dieses Projekt. Mit Blick auf das finale Zusammenspiel ging dem zumeist die Bitte um die Bearbeitung eines spezifischen Aspekts des Themas voraus.

¹ Wie etwa in den Werken der Gruppe Taring Padi auf der documenta fifteen, Kassel 2022.

² Christien Meindertsma, PIG 05049. Tracing and charting all the products made from a single commercial pig, Rotterdam 2008. Die mit dem Dutch Design Award ausgezeichnete Publikation bietet einen lexikalisch geordneten Überblick über 185 jeweils doppelseitig abgebildete Produkte unter Verwendung des Schweins.

³ Eckehard Niemann, »Die verschwiegene Agrarindustrialisierung. Über die Zunahme von Großagrariern und Agrarfabriken «, in: Kritischer Agrarbericht 2010, S. 46–50, https://kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2010/Niemann.pdf (Zugriff: 1.5.2022).

⁴ Amelie Ruhsamer, LFD-Holding, »Verkauf an Investor abgewickelt«, in: Agrar Heute, 20.3.2020, https://www.agrarheute.com/tier/schwein/lfd-holdingverkauf-investor-abgewickelt-566432 (Zugriff: 1.5.2023).

⁵ »Konzernabschluss zum Geschäftsjahr vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Dezember 2020 der LFD Holding GmbH, Genthin«, in: Bundesanzeiger, 7.7.2022, https://www.unternehmensregister.de/ureg/result.html;jsessionid=8162132F9B27B8DE4E0918F2BA20707B.web01-1https://www.unternehmensregister.de/ureg/result.html;jsessionid=8162132F9B27B8DE4E0918F-2BA20707B.web01-1 (Zugriff: 3.1.2023).

⁶ »Wie Firmen die Mitbestimmung aushebeln«, in: Böckler Impuls 06/2016, https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-wie-firmen-die-mitbestimmung-aushebeln-7572.htm (Zugriff: 25.4.2023), mit Dank an Christoph Trautvetter, Netzwerk Steuergerechtigkeit (https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/).

https://www.bmuv.de/themen/nachhaltigkeit-digitalisierung/nachhaltigkeit/strategie-und-umsetzung/flaechenverbrauch-worum-geht-es (Zugriff: 20.4.2023).

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/28795/umfrage/schweinebestand-in-deutschland/ (Zugriff:5.5.2023).

⁹ Jean-François Chevrier, o. T., (Statement anlässlich der 150. Ausgabe der Camera Austria), in: Camera Austria International, 40. Jg., Heft 150/51, 2020, S. 69.

¹⁰ Bertolt Brecht, »Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment«, 1930, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht u. a., Bd. 21, Berlin 1992, S. 448–515, hier S. 469. Mit Dank an Stefan Siegel für den Hinweis in Keinerlei Ansicht? Industriefotografie und Kulturindustrie bei Bertolt Brecht, https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/kb/article/download/91662/86347 (Zugriff: 1.5.2023).

¹¹ Die Ausstellung war vom 15.7. bis 31.10.2022 im Museum für Kunst & Gewerbe in Hamburg und vom 9.3. bis 29.5.2023 im Kunsthaus Wien zu sehen.