Schweinebewusstsein Inka Schube im Gespräch mit Kathrin Ollendorf und Holger Linde

Interview von
Inka Schube

Seit 2012 bewirtschaften Kathrin Ollendorf und Holger Linde den Hutewaldhof Riskau bei Dannenberg, einen Arche-Betrieb. Für ocular witness: SCHWEINEBEWUSSTSEIN beantworten die beiden, die sich auch Schweinehirt:innen nennen, via E-Mail zugesandte Fragen nach ihrer Motivation, ihrer Arbeit und ihren Schweinen.

Inka Schube: Woher kam die Idee, wie fing es an?

Kathrin Ollendorf und Holger Linde: Holger hatte die Idee der Freilandschweinehaltung seit vielen Jahren im Kopf, wollte dies schon mit seinem Vater verwirklichen. Als wir beide für solch ein Projekt einen Hof suchten und den Hof zusammen mit Wald und Acker fanden, war klar: Die Schweine sollen auch in den Wald dürfen, denn da gehören sie ja hin.

Was genau ist ein Arche-Betrieb, was zeichnet ihn aus? Die Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen (GEH) e.V. zertifiziert Bauernhöfe als Arche-Betriebe, wenn diese mindestens eine alte Rasse halten, nutzen und zur Erhaltungszucht beitragen (die Zuchttiere also im Herdbuch der jeweiligen Rasse geführt werden).

Was waren aus eurer Sicht die wichtigsten, grundsätzlichen Schritte? Zuerst den passenden Ort zu finden, dann mit einem detaillierten Projektplan bei den zuständigen Behörden vorsprechen, nach der Aussicht auf deren Zustimmung bzw. nach deren Bedenken fragen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf schrieben wir dann den Antrag für die Einrichtung eines landwirtschaftlichen Betriebs, auf Genehmigung der Schweine-Freilandhaltung und die Ausnahmegenehmigung für die herbstliche Waldweide. Einige Jahre später folgte der Antrag für die Anerkennung als unersetzbare tiergenetische Ressource (UTR).

Praktisch waren die allerwichtigsten Schritte die Errichtung des durchwühlsicheren Außenzauns und die Entscheidung für eine freundliche, robuste Schweinerasse. Und natürlich, die ersten kleinen Angler-Sattelschwein-Zuchtsauen zu kaufen!

Warum habt ihr euch für genau diese Schweinerasse entschieden? Angler Sattelschweine sind robust, kommen mit den verschiedenen Wetterlagen klar, sie können noch gut Grünfutter verdauen und sind den Menschen zugewandt – durch diese Eigenschaften taugen sie hervorragend für die Freilandhaltung. Leider ist diese Rasse vom Aussterben bedroht. Durch die Zucht und die Vermarktung tragen wir ein Puzzleteil dazu bei, die Rasse als Genreserve zu erhalten.

Welche organisatorische und/oder finanzielle Hilfe bekamt ihr? Mit Rat und Tat haben uns Familie und Freunde unterstützt – großen Dank! Das Projekt ist privat finanziert. Ansonsten gab es keine weiteren finanziellen Hilfen – EU-Subventionen hätten uns in dem, was wir machen, nur eingeschränkt. Andere Fördermaßnahmen haben aus den verschiedensten Gründen nie gepasst, denn irgendeine Fördervoraussetzung gab es immer, die wir nicht erfüllten.

Die verschiedenen Behörden und auch wir selbst waren kompromissbereit, um diese Form der Schweinehaltung zu ermöglichen.

Voraussetzung für unser weiteres Wirtschaften sind unsere Kund:innen, die hoffentlich auch in Zukunft bereit sind, die hohen Preise für die Schweine bzw. deren Produkte zu bezahlen.

Was sind die Vorteile, der Nutzen, den ihr in dieser Art des Wirtschaftens seht? Die Schweine haben es gut, dies ist das Wichtigste. Sie haben bei uns die Möglichkeit, ihre Eigenarten auszuleben und ihre Persönlichkeiten zu entwickeln. Die Arbeit mit ihnen und immer an der frischen Luft macht Spaß. Die Produkte sind lecker. Mit wenig Fläche und wenigen Tieren beschäftigen wir verhältnismäßig viele Arbeitskräfte.

Die Ackerfläche ist von einer Hecke umgeben und wird mit verschiedenen Futter- und Wildpflanzen sehr kleinteilig bewirtschaftet. Zeitweise liegen Teile der Fläche brach, und irgendwo gibt es immer ein Wasserangebot – so ist ein vielgestaltiger, strukturreicher Rückzugsort für verschiedenste Pflanzen, Insekten, Eidechsen, Ringelnattern und Vögel entstanden. Sandwespen profitieren von der durch die Schweine bewegten Erde. Käferlarven entwickeln sich in den Kothaufen. Greifvögel jagen die Mäuse, die die weidenden Schweine aufscheuchen. Die Natur hat die Schweine auf dem Acker prima integriert.

Wo seht ihr die größten Risiken und Gefahren für eure Art des Wirtschaftens? Die größte Gefahr ist die rasche Veränderung des Klimas, an unserem Standort etwa die jahrelange Dürre, für die Schweine ist es die Hitzebelastung im Sommer. Unter diesen Bedingungen ist kein verlässlicher und ausreichender Grünfutteranbau mehr möglich.

Die zweite wirklich große Gefahr besteht im Eintragen oder Auftreten von Tierseuchen.

Aktuell sorgen wir uns, dass die Menschen unter den heutigen Rahmenbedingungen am Ende vielleicht doch wieder anfangen, am Essen zu sparen.

Ein weiteres Risiko ist auch die nie auszuschließende behördliche Restriktion für die Freilandhaltung der Schweine. Wenn sich die Anforderungen dafür erhöhen, wird es schnell unmöglich.

Würdet ihr heute jemandem raten, diesen Weg einzuschlagen? Ja, immer. Der Schweine wegen, aber auch der Bauern und der Kunden wegen. Alle kennen einander und sind zufrieden.

Vor allem aber möchten wir alle irgendwo zuständigen Behörden ermutigen, solche Projekte zu bewilligen. Wir erleben viel Zustimmung in unserem gesellschaftlichen Umfeld, die Menschen wollen, dass es den Schweinen wirklich gut geht. Wir sehen uns als Beispiel, anderen Bauern Wege zur Veränderung aufzuzeigen.

Was müsste aus eurer Sicht für einen regenerativen Umbau der Landwirtschaft geschehen?

Wir wünschen uns einen Abbau der generellen Flächensubventionen. Falls es überhaupt Subventionen geben sollte, dann für nachgewiesenen Humusaufbau (CO2-Fixierung) oder für Arbeitskräfte oder eine zeitweise finanzielle Unterstützung für den Aufbau neuer Betriebszweige, beispielsweise für Agroforstsysteme – das alles sind aber nur grobe Vorschläge. Außerdem wäre es sinnvoll, nur noch flächengebundene Tierhaltung zu erlauben.

Haben Schweine Gefühle? Wenn ja, woran merkt ihr das? Sie zeigen eindeutig Gefühle.

Nicht zu übersehen sind dabei ihr Optimismus und ihre Ungeduld.

Es existiert ein starkes Gruppengefühl: wer dazugehört und wer nicht – Schweine sind fremdenfeindlich! Schweine spüren unmittelbar, was die anderen gerade machen, welches Gefühl dort vorherrscht. Dies ist gut sichtbar, bei Entspannung etwa (gemeinsames Dösen und Schlafen), bei Erschrecken (gleichzeitige Flucht), bei Angst (diese wirkt ansteckend), bei Hunger (zuerst Crescendo-Jammern, dann gemeinsames Fressen), bei übermütigem Toben (Drehen, Hopsen).

Ebenfalls eindeutig sind individuelle Gefühlslagen wie Freude (z. . lautes Begrüßungsgrunzen, Lachen, Schwänzchen propellermäßig drehen), das Quieken vor Wonne bei einer Rückenmassage, aber auch Schüchternheit oder Unsicherheit und Vorsicht in ungewohnten Situationen – trotz ihrer Neugier.

Die meisten Schweine fallen durch einen individuellen Charakter auf, manche bleiben beispielsweise immer zurückhaltend, andere sind permanent fordernd in ihrem Wesen, mal extrem verkuschelt, mal ausgesprochen freundlich bis nahezu höflich (wenn sie sich etwa vom Fressen abwenden, um uns zuerst einen »Danke«-Stups zu geben), manche sind regelmäßig gestalterisch tätig (drapieren täglich Äste, Steine, Strohhalme in besondere Positionen) und einzelne fallen durch besondere Intelligenz auf.

Es gibt Freundschaften zwischen den Tieren, und zwar unabhängig von der Rangfolge, oder auch zu anderen Tieren, wie etwa Hund oder Mensch.

Schweine können sehr eifersüchtig sein und aus diesem Grunde grantig werden.

Am Futtertrog kennen sie vor lauter Gier keine Verwandten. Zusammen nebeneinander Wasser saufen geht hingegen prima.

Woran genau macht ihr die Intelligenz der Schweine fest? Das wohl bemerkenswerteste Beispiel waren Tiere, die mehrmals intensiv aus der Nähe beobachtet haben, wie wir die Tore der Elektrozäune öffnen und schließen. Feststellung: Wir fassen die Weidezaun-Torgriffe an, ohne einen Stromschlag zu bekommen. Eines Tages wurde dann ganz vorsichtig und mutig probiert: Langsam näherten sie ihre weit geöffnete Schnauze dem Griff, legten sie um den isolierten Teil und bissen zu. Es fehlte nur eine kleine Bewegung, und das Tor wäre offen gewesen. Seitdem drehen wir den Haken des Griffes einmal um den Draht, damit die Verbindung schweinesicher geschlossen ist.

Intelligenz ist auch, wenn ein Schwein eine Entdeckung macht, etwa wie man die Pfähle des Elektrozauns umlegen kann oder den Zaun anderweitig überwindet, und die anderen in der Gruppe sich dieses Verhalten im Nu abschauen. Wir Menschen müssen in solchen Situationen zaunbautechnisch irre schnell reagieren und »aufrüsten«.

Unter einem großen Reisighaufen oder unter einem dicken Baumstamm riecht es nach leckeren Käferlarven? Kein Problem. Die Familie wird herbeigerufen und das Hindernis in Teamarbeit weggerollt.

Eine von uns beobachtete Glanzleistung ist die Ferkelaufzucht, etwa die verschiedenen Methoden der Sauen, das Treten oder Erdrücken von kleinen Ferkeln zu vermeiden. Sie brauchen nur genug Platz und ausreichend Stroh, dann erfinden sie eine Variante. Außerdem beobachten wir, wie die Sauen uns einmal ganz bewusst mit den etwa eine Woche alten Ferkeln bekannt machen bzw. andersrum: Die Ferkel werden im Kreis versammelt, und die Sau zeigt ihnen, wie wir laut und freudig begrüßt werden: Man läuft grunzend auf uns zu, macht einen Stups mit dem Rüssel und lässt sich streicheln. Die Sau macht es vor, und plötzlich machen alle Ferkel es nach. Keine Scheu vor uns Menschen zu haben lernen die Kleinen von den Muttersauen.

Bei dieser Vielfalt an Empfindungen – wo fängt wohl das Schweinebewusstsein an? Vielleicht in dem Moment, in dem sie mit ihrer charakteristischen starken Neugier schon als Ferkel aktiv beginnen, die Welt zu entdecken, also spätestens, wenn sie am zweiten Lebenstag den ersten Strohhalm zerkauen und damit sichtlich stolz vor Mamas großer Schnauze posieren.

Ansonsten ist das Bewusstsein ein komplexes Thema, dem wir uns nur nähern können, wenn wir uns selbst zurücknehmen und aufpassen, nicht zu viel in eine Situation hineinzuinterpretieren.

Oft beobachten wir anscheinend zielgerichtete Handlungen der Schweine, die uns Menschen unsinnig vorkommen. Am Schluss ergeben sie jedoch oft einen Sinn, etwa wenn der Innenraum mehrerer Hütten am Rande mit einem ordentlichen dicken Kranz Reisig verziert ist – nein, offensichtlich nicht als Polsterung für ein Schlafnest, so etwas sieht anders aus. Definitiv gibt es Schweine, die ein ästhetisches Empfinden besitzen. Warum sonst schauen einige im Sommer abends chillend ausgerechnet in Richtung Sonnenuntergang?

Offensichtlich haben viele Schweine einen Blick auf sich selbst wie auf ihre Situation und reflektieren diese auch. Sich durch einen Apfel irgendwohin locken lassen: immer – außer beim Gang in den Schlachthof, diesen treten sie ergeben und in der Regel traurig an. Äpfel werden in diesem Moment meist verschmäht.

Wir hatten mal ein Schwein, das bei Regen zuerst ausgiebig die Dunkelheit und Größe der Regenwolken im Westen betrachtete, bevor es sich in den Schutz der Hütte zurückgezogen hat.

Esst ihr eigentlich selber Fleisch von euren Schweinen? Natürlich, wir essen NUR das Fleisch von unseren Schweinen – oder wenn es mal Rind oder Geflügel von Bauern gibt, wo wir die Tierhaltung kennen. Fremde Schweine essen, das geht gar nicht mehr.

Holgers Standpunkt ist, dass wir die Schweine im Grunde gar nicht töten dürfen, da sie ein Ich-Bewusstsein haben. Er isst sie trotzdem, weil wir Menschen eben auch Fleischesser sind, auch aus Achtung vor den Tieren – wenn wir die Schweine schon töten lassen, dann sollen sie auch gegessen werden. Die ganze Frage ist aber ein Prozess und für ihn noch nicht abgeschlossen.

Ich selbst empfinde, wenn ich die Tiere verabschiede und später ihr Fleisch esse, eine große Dankbarkeit. Die Erkenntnis, dass wir alle Teil des großen Kreislaufs der Natur sind, die Intensität des Lebens und die Unwiderruflichkeit des Todes rücken jedesmal wieder nah. Für uns als Säugetiere ist Nahrungsaufnahme unausweichlich mit dem Tod anderer Lebewesen verbunden, selbst wenn wir Pflanzen essen.

Hinzu kommt ein ganz praktisch empfundener Aspekt: dass ich mein derzeitiges Leben vollständig dem Projekt widme, den Schweinen ein wirklich gutes Leben bei uns zu ermöglichen. Das kostet viel Arbeit und körperliche Kraft zu jeder Jahreszeit. Dann zwischendurch ein Schmalzbrot auf die Hand oder als seltenes Highlight mal ein geschmortes Herz – die Kraft und Zufriedenheit nach dem hochwertigen Essen gibt mir buchstäblich neuen Schwung für die nächsten Stunden Arbeit draußen, für die lebenden Schweine. Überträgt sich die muntere Lebenskraft der Tiere mit dem Essen auf uns? Das bleibt Spekulation. Für mich persönlich schließt dieser Gedanke einen Kreis.

Habt vielen Dank! Wir sehen uns spätestens in der Ausstellung!

Biografien

Holger Linde

*1959, Dannenberg; lebt bei Dannenberg

• seit seiner Kindheit Mitarbeit auf elterlichem Hof mit Schweinezucht, später Weiterführung des Hofes im Nebenerwerb • unabhängig vom bürgerlichen Berufsweg (Studium der Landwirtschaft, Kaufmann im Genossenschaftswesen) intensive spirituelle Beschäftigung mit der Natur • 2012 Projektinitiator Hutewaldhof und Aufbau der Freilandschweinehaltung

Kathrin Ollendorf

*1976, Magdeburg; lebt bei Dannenberg

• 1995/96 ökologische Milchviehhaltung Landhof Lindenberg (Altmark) • 1996–2001 Studium der Agrarökologie, Universität Rostock • 2002–2004 Beratertrainee ökologischer Landbau Gäa Sachsen e. V. • seit 2003 Management von Softwareübersetzungen und Benutzerhandbüchern Firma Ollendorf Mess-Systeme • 2005–2012 ökologischer Gemüsebau Landhof Lindenberg (Altmark) • 2012 Gründung des Hutewaldhofes und Aufbau der Freilandschweinehaltung

Inka Schube

*1961, Burg/Magdeburg; lebt in Berlin und Hannover

• 1981–1987 Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie, Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin • seit 2001 Kuratorin für Fotografie und Medienkunst, Sprengel Museum Hannover

P Christiane Möbus. Seitwärts über den Nordpol, Köln 2022 (Autorin) • Anne Schönharting, Habitat: Berlin-Charlottenburg, Stuttgart 2022 (Autorin) • Umbo. Fotograf; Umbo. Photographer, Köln 2019 (Text, Hg.) • Werkstatt für Photographie 1976–1986, Köln 2016 (Text, Mit-Hg.) • Boris Mikhailov. Die Bücher / The Books, Köln 2013 (Text, Hg.)